Die Legende lebt und wie

VON MARTINA DREISBACH
Als die „Rag Doll“ über die Bühne fegt, jene heißgeliebte Puppe aus Lumpen, die sie das Lieben gelehrt hat über alle Unbill des Lebens hinweg, ihr bewegtes
„River deep, Mountain high“-Dasein, ist Tina Turner so nah wie nie. Mit ihrer kraftvollen Stimme und ihrem präsenten Körper. Mit der fetzigen Perücke,
die sie immer selbst arrangierte. Mit dem unsterblichen Song aus der harten Zeit mit Ike Turner. Es ist das Schöne an der Erinnerung: Sie kann lebendig
sein, im Falle der „Typically Tina Tribute-Show“ am Freitagabend am vollgepackten Karree vorm Kaiser-Wilhelms-Bad sogar sehr lebendig.
Dafür sorgt schon Karin Bello aus Los Angeles mit einer sagenhaft intonierten Band. Sie hat sich der Diva wie eine Zwillingsschwester anverwandelt bis
in die Fingerspitzen – und sie treibt es noch ein bisschen weiter. Das Lachen, das sie raushaut, hat es in sich. Es klingt vulgär, wie von einem Lachmonster.
Manchen gefällt es gar nicht. Aber man darf es als Geste des Abstands von der echten Tina interpretieren, die übrigens nicht größer war als ihr Double:
1,64 Zentimeter. Vor einem Jahr starb die in Tennessee als Annie Mae Bullock geborene Pop-Diva im Alter von 83 Jahren in Küsnacht in der Schweiz.
Typically Tina zackert nicht lang, kündigt eine Runde „Shimmy“ an in ihrem knallroten Lamettafetzen, der ihre sportliche Figur nur zufällig bedeckt. Sie
dreht dem Publikum den Rücken zu und lässt das knappe Röckchen wackeln. Dann die blitzenden Augen, die makellosen weißen Zähne: „Are you having
good Spaß?“ Sie knallt ihre Ansage mit Wonne ins Mikro und besiegelt es mit diesem bärigen Lachen, als amüsiere sie sich selbst darüber.
180 Millionen Tonträger hat Tina Turner verkauft. Karin Bello tourt seit fünfzehn Jahren als Tina. Die Legende lebt, und die Show geht weiter. Dem roten
Glitterkleid folgt ein goldenes. Das Publikum folgt ihren Traversalen über die Bühne, den Freiübungen mit Armen, mit Hüfte. Ein Programm für Leistungssportler.
Dazu der Gesang. Man schließt die Augen, es klingt echt. Alle Achtung, und der Applaus reißt nicht ab. Die Scheinwerfer irrlichtern in allen Farben
über die Bühne vorm alten schönen Badhaus. Längst sind die Zuschauer vorgerückt. Sie stehen in ihren sommerlich geblümten und aben-teuerlich
gemusterten Hemden und Kleidern dicht vor der Bühne und wiegen sich im alten Rhythmus, tanzen mit angelegten Armen wie damals, als Tina Turner
noch nicht auf HR4 lief. Sie filmen mit ihren Handys, manch einer wird sich die Show erst zu Hause in einem Stück ansehen.
Dann „Let’s stay together“, diese soulige herausfordernde Melodie, die weiland auch in der Tennis Bar ihr Publikum auf die Tanzfläche zog wie ein Magnet.
„Private Dancer“ mit Sprühnebel, die E-Gitarre jault leidenschaftlich auf, eine Fahne Cannabis weht vorbei, alles erlaubt heute, „I can’t stand the rain“,
singt sie, aber es sind immer noch 28 Grad auf der Liege- und Sitzwiese mit Bänken, Tischchen, Runden, Pärchen in Campingstühlen.
„Golden Eye“, die 007-Titelmelodie, das Publikum errät alles, die Kommunikation mit Tina läuft wie eine Unterhaltung alter Bekannte. Das ist es ja auch.
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Neue Songs gibt es nicht. Neue Outfits schon, höchstens drei Minuten braucht Typically Tina, um in einer Schimmerwolke aus Silbergrau als Drama
Queen wieder alle Handyblicke auf sich zu ziehen. 
Dann macht diese Tina etwas, das man so beim „Bad Homburger Sommer“ noch nicht erlebt hat. Sie steigt von der Bühne, eilt im Tina-Schritt zu den VIP Plätzen,
hängt einem auf den Sponsoren vorbehaltenen Stühlen sitzenden Mann ihren Oberschenkel über die Schulter und legt ihm die Hand aufs Haupthaar. Shocking. Aber Tina ist noch nicht fertig mit ihrem Coup. Zack, sitzt sie rittlings auf dem Schoß eines weiteren Zuschauers, umarmt ihn innig.
Die zwei Securitys stehen in ihren gelben Westen ratlos daneben. Sollen sie den Mann retten? Nicht nötig. Auf seiner Stirn prangt der Abdruck roter Lippen. Er lächelt.

Montag, 22. Juli 2024, Taunus Zeitung / Lokales
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